

Der moralische Ablaßhandel

Die Kunst des guten Scheins
von Aurelia Varnholt
Es gab einmal
eine Zeit, da kaufte man sich im Mittelalter den Ablaß der Kirche, um die
eigene Seele zu entlasten.
Heute, viele
Jahrhunderte später, hat sich wenig geändert – nur die Verkaufsstände sind
digital geworden, und die Priester tragen keine Roben mehr, sondern moralisch
korrekte Hashtags.
Der moralische
Ablaßhandel der Gegenwart ist ein erstaunlich effizientes System:
Man muß nichts tun, um als gut zu gelten – man muß es nur
behaupten.
Ein kurzer Post,
ein Selfie von der richtigen Kundgebung, ein empörtes Statement mit maximaler
Wortmoralität – und das Publikum applaudiert.
Die Tat ist
überflüssig geworden; der Schein übernimmt ihre Funktion. Moral als Marketing,
Empörung als Lifestyle.
Dahinter liegt ein bequemes Prinzip:
Wer laut genug
verkündet, wofür er steht, wird selten gefragt, was er tatsächlich tut.
Die moralische
Selbstvergewisserung wird zur Bühne, auf der Menschen ihre Tugend aufführen,
ohne je das Risiko echter Konsequenzen tragen zu müssen.
Es geht nicht um
Veränderung, sondern um das Gefühl, auf der „richtigen Seite“ zu stehen – ein
Gefühl, das billiger ist als jede echte Verantwortung.
Der neue Ablaß
funktioniert so gut, weil er sich perfekt an die Mechanik der heutigen Zeit
angepaßt hat: schnell, sichtbar, risikolos. Die moralische Pose läßt sich
innerhalb von Sekunden erzeugen.
Ein einziger
moralisch aufgeladener Satz genügt – und schon ist man Teil der Gemeinschaft
der Guten, jener, die Wasser predigen und mit größtem Genuß Champagner trinken.
Doch genau hier offenbart sich der Kern der Heuchelei:
Die
selbsternannte Tugendelite lebt nicht moralisch – sie wirkt moralisch.
Es ist eine
hochästhetisierte Form des Schein-Guten, die äußerlich glänzt, aber innerlich
hohl ist. Moral wird zu einer Art Accessoire, einem Ornament des Selbstbildes.
Ein Schmuckstück für das Ego.
Der eigentliche
Schaden besteht darin, daß diese Ritual-Moral jene verdrängt, die tatsächlich
handeln.
Wer leise,
konsequent und unaufgeregt das Richtige tut, steht im Schatten derer, die
lautstark darüber reden.
Der moralische
Ablaßhandel ist daher nicht nur harmlos lächerlich – er ist destruktiv, weil er
echte Moral übertönt und trivialisierend entwertet.
Was bleibt?
Die Erkenntnis,
daß wahrhaft ethisches Handeln keine Zuschauer braucht und keinen Applaus
sucht.
Echte Moral
beginnt dort, wo niemand klatscht, wo kein Selfie gemacht wird, wo kein Hashtag
funktioniert.
Sie ist schwer,
unbequem, manchmal schmerzhaft – und genau deshalb selten.
Der Ablaß des
Mittelalters versprach Rettung im Jenseits.
Der Ablaß der
Gegenwart verspricht Rettung des eigenen Images.
Doch in beiden Fällen gilt:
Wer sich freikauft, verändert nichts – am allerwenigsten
sich selbst.
Mit Dank an
Aurelia Varnholt

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